Vortrag am Zentrum für Kunst und Medientechnologie, Karlsruhe

Symposium 'inside THE MATRIX. zur Kritik der zynischen Virtualität' am 28. Oktober 1999, veranstaltet vom Zentrum für Kunst und Medientechnologie, Karlsruhe, vom Europäischen Institut des Kinofilms Karlsruhe und von bluebox, Freundeskreis Schauburg e.V.

 

Benjamin Marius Schmidt

 

Buddhismus und Paranoia in der Matrix

Über einen auffälligen Widerspruch in Andy und Larry Wachowskis Film Matrix

 

 

 

 

Für Javier Ramos

 

1 Descartes' böser Dämon und die paranoide Ontologie

Ignorance is bliss. Mit diesen Worten begründet Morpheus' Mitarbeiter Cypher seinen Verrat an der aufklärerischen Befreiungsaktion des Meisters. Unwissenheit ist Seligkeit. Er guckt begehrlich, geradezu sehnsüchtig auf ein blutig-saftiges Stück Fleisch, das er auf der Gabel hält, dann schiebt er es sich geniesserisch in den Mund, bevor er diesen Satz äussert. Das deutet an: Selige Unwissenheit meint hier nicht die unschuldige Reinheit eines Toren. Cypher ist kein Parsifal. Cypher ist ein Judas. Der Verräter hat eine Vorliebe für totes Fleisch und berauschende Gtränke, und das heisst — denn er ist der Bösewicht des Films — für Genuss durch Töten und gezieltes Nicht-Wissen-Wollen.

Die selige Unwissenheit, in die Cypher sich zurücksehnt — so suggeriert der Film — ist Ausdruck einer begehrlichen Dumpfheit. Sie ist die wichtigste Gegenkraft zum aufklärerischen Unternehmen. Sie ist es, die die Befreiung des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit verhindert. Matrix erzählt davon, dass diese zwei untrennbar verbunden sind: Befreiung durch Aufklärung, Aufklärung durch Befreiung. Die Judasgeschichte um Cypher zeigt: Dies ist nicht ein bloss intellektuelles Projekt. Es ist ein Unternehmen, in dem wahre Erkenntnis und rechtes Verhalten sich gegenseitig bedingen. Jeder Wahrheitssucher ein Freiheitskämpfer, jeder Freiheitskämpfer ein Wahrheitssucher. Es ist ein Unternehmen, das die ganze Person erfordert, weil sein Erfolg emotionale Qualitäten voraussetzt. Aufklärung und Befreiung aus der Matrix setzen voraus, dass der tiefverwurzelte Wille zum Nicht-Wissen überwunden ist, der aus Dumpfheit, Begehrlichkeit und Widerwillen entspringt. Der Teufelskreis der Gleichsetzung von Unwissenheit mit Seligkeit muss durchbrochen sein, damit Befreiung gelingt.

Ignorance is bliss, some say. Das ist der erste Satz aus Josef Rusnaks Film The Thirteenth Floor (1999). Direkt davor, unmittelbar nach dem Titel, liest man leinwandfüllend: Cogito ergo sum. Descartes. In The Thirteenth Floor geht es um ein ähnliches Thema wie in Matrix: um Menschen, denen allmählich die Erkenntnis dämmert, dass ihre Realität nicht real ist, dass sie nicht unabhängig aus sich heraus existiert. Die Welt, die sie bewohnen, wird von anderswoher programmiert. Dieselbe Thematik finden wir auch in Paul VerhoevensTotal Recall (1990), in Alex Proyas Dark City (1998) und in Peter WeirsThe Truman Show (1998). All dies sind Filme der letzten Jahre, die in einem übereinstimmen: in ihrer paranoiden Ontologie, also in der Vorstellung, dass Realität von anderswoher programmiert wird.

Warum in diesem Zusammenhang Descartes? Das ist leicht erklärt. Wer, durch diese Filme angeregt, die Meditationes von Descartes liest — und das ist genau das, was ich getan habe — wird schnell fündig. Descartes versteht sich als Wahrheitssucher. An einem entscheidenden Punkt seiner Entwicklung hält er es für förderlich, ein Experiment zu veranstalten, das Philosophiegeschichte gemacht hat. Man nennt es 'methodischer Zweifel', und das geht so: Descartes zieht sich auf sein Landhaus zurück und beschliesst in tiefster Einsamkeit, nichts, aber auch gar nichts für wahr zu halten, woran er irgend zweifeln kann. 'Meine Sinne täuschen mich gelegentlich', sagt er sich. 'Also kann ich dem Zeugnis meiner Sinne nicht trauen. Und überhaupt:', so fährt er fort, 'Woher weiss ich eigentlich, dass mein Erleben, dass die Eindrücke, die ich habe, von Gott her kommen? Nur dann kann ich mich nämlich darauf verlassen, dass meine Eindrücke und mein Erleben mit der Welt, wie sie wirklich ist, übereinstimmen. Aber es könnte doch auch sein', denkt Descartes sich in seinem einsamen Landhaus — und hier kommt jetzt die paranoide Tendenz des methodischen Zweifels zum Ausdruck — 'es könnte doch auch sein, dass Eindrücke und Erleben nicht von Gott vermittelt sind. Es könnte doch sein, dass da ein genius malignus, ein böser Dämon sitzt, der mir sozusagen beständig ins Hirn scheisst, der mir irgendwelchen Unsinn einbeamt, der mit der tatsächlichen Wirklichkeit nichts zu tun hat. So wäre dann das, was ich erlebe, und die Welt in der ich wirklich lebe, radikal verschieden, und ich wüsste noch nicht einmal, dass es so ist.'

Und das ist natürlich genau die Situation in Matrix. The Matrix is the world that has been pulled over your eyes to blind you from the truth, erklärt Morpheus. Descartes würde übersetzen: 'Die Matrix ist mein ganzes Erleben, das mir von einem bösen Dämon eingegeben wird, um mich über die tatsächliche Situation zu täuschen.' Und das trifft es ziemlich gut. Nur gibt es da einen entscheidenden Unterschied: Was bei Descartes das leicht paranoide Misstrauen einer vorübergehenden, wenn auch radikalen Skepsis war, nur ein Mittel des methodischen Zweifels auf dem Weg zur Wahrheit, das wird in diesen Filmen zur metaphysischen Glaubensgewissheit. Ein wichtiger Unterschied. Descartes' hypothetischer genius malignus, das sind in Matrix die intelligenten Maschinen, welche den Menschen in ihren Nährlösungskokons eine digital codierte, elektronisch erzeugte halluzinatorische Realität vorgaukeln. Das sind in The Thirteenth Floor die Teilnehmer der nächsthöheren usergroup, welche die darunterliegende Simulationswelt programmieren und benutzen. Das sind in Dark City die Ausserirdischen, welche auf der Suche nach dem Geheimnis der Individualität eine ganze Stadt als Versuchslabor aus den Erinnerungsfragmenten der Menschen errichtet haben, die diese simulierte Umgebung als real erleben. Das ist in Truman Show der Regisseur der Show mit seinem Team, der Truman seit seiner Geburt und ohne sein Wissen in einer bis ins Detail kontrollierten Kleinstadtumgebung gefangen hält, bei der es sich in Wirklichkeit um das grösste Studioset der Welt handelt.

Um aber noch einmal den Unterschied zu formulieren: Bei Descartes ist der genius malignus eine methodische Hypothese, die im Zuge der Wahrheitsgewinnung widerlegt wird. In diesen Filmen geht es jedoch im Gegenteil darum, die schreckliche Wahrheit zu erkennen, dass der genius malignus keine hypothetische, sondern reale Existenz hat. Es gibt ihn wirklich. Das erinnert an den Unterschied zwischen Neurose und Psychose: Der Neurotiker, so sagt man, zweifelt, der Psychotiker weiss.Descartes als Neurotiker wagt vielleicht einen kleinen Flirt mit dem Dämonischen. Er denkt, 'es könnte so sein, aber letztlich ist es nicht so'. Der genius malignus ist eine neurotische Angstphantasie, die vorübergehend Macht gewinnt, dann aber abgewehrt wird — manche sagen 'widerlegt', andere 'verdrängt'. Die Maschinen in Matrix aber sind für Neo, Trinity, Morpheus keine Angstphantasien, keine hypothetischen Annahmen. Sie sind verdammt real, und wenn bei einem Angriff der ElectroMagneticPulse nicht rechtzeitig betätigt werden kann, ist das ganze Schiff geliefert. Von Descartes zu Matrix mutiert der genius malignus: Aus einer neurotischen Phantasie, aus einem skeptischen Zweifel wird eine psychotische Gewissheit, eine metaphysische Wahrheit.

 

 

2 Höhlenausgänge und Hinterwelten

Die Geschichte von Neos Befreiung aus der Matrix ist eine Variante der grossen philosophischen Erzählung vom Höhlenausgang. Platon erzählt von Menschen, die mit dem Gesicht zur Rückwand in einer Höhle festgekettet sind. In Matrix sind die Menschen in Nährlösungskokons gefangen. Superrealistische, digital codierte Realitätssimulationen werden ihnen über Elektroden direkt ins Hirn gespeist. Platon berichtet von einer frühen, medientechnologisch noch nicht so ausgereiften Ausführung derselben Idee: Vor der Höhle werden Gegenstände vorbeigetragen, die Träger durch eine Mauer verdeckt, das Licht eines Feuers wirft die Schatten auf die Höhlenrückseite. Dies ist die einzige den Höhlenbewohnern bekannte Realität. Philosophie heisst nun Erkenntnis der Wahrheit durch Befreiung aus den Ketten und Ausgang aus der Höhle. Morpheus wäre demnach ein platonischer Philosoph. Die Grundidee ist dieselbe: Was wir für Wirklichkeit halten, ist nicht, was es scheint. Es sind Eindrücke, die von anderswoher kommen und nicht sie selbst bedeuten. Viele erliegen der illusionären Gewalt des Anscheins. Das heisst: Sie sind sich ihrer Unfreiheit nicht bewusst. Einige aber befreien sich aus der Gefangenschaft und werden zur Erkenntnis der Wahrheit geführt. Oder umgekehrt: Sie erkennen die Wahrheit und werden aus der Gefangenschaft befreit. Sie entdecken: Es gibt eine Welt hinter der Welt — eine Hinterwelt.

Die Hinterwelt ist das, was wirklich ist, und zugleich das, was den Anschein erzeugt, den wir für wirklich halten. Es gibt viele unterschiedliche Geschichten von Ausflügen in die Hinterwelt. Gelegentlich werden die seriöseren unter ihnen unter dem Namen Metaphysik zusammengefasst. Matrix ist ein metaphysischer Film. Er erzählt von einem Ausbruch in die Hinterwelt, von einem Durchbruch aus der trügerischen Oberflächenrealität in die wahre Tiefe des Seins, die darunter und dahinter verborgen liegt. Aber etwas unterscheidet ihn von Platons Höhlenausgangsabenteuer: Der Ausbruch aus Platons Höhle führt ins Reich der Ideen, in eine nur anfangs verwirrende Welt des Wahren, Guten, Schönen. Die Hinterwelt der Matrix hingegen ist nicht strahlender, heller, besser, sondern trüb, grau und ungeheuerlich angseinflössend und deprimierend. Platon erklärt die Idee des Guten durch eine Analogie zur Sonne: als Herrscherin bringt sie Wahrheit und Vernunft hervor. In Matrix dagegen haben die Menschen die Sonne vernichtet.

Die Hinterwelt der Matrix hat einen pessimistischen Akzent, der an Schopenhauer erinnert. Schopenhauer hat das Hinterwelten-Schema umgedreht. Platon sagt: 'Hier ist nur trüber Abglanz, dort aber ist strahlende Wirklichkeit'. Schopenhauer dagegen sagt umgekehrt: 'Wir sehen nur den schönen Schein, darunter liegt die schlimme Wahrheit'. Die Welt als Vorstellung gilt ihm wie Morpheus als 'Schleier der Maya', als eine Welt, die wir über unsere Augen gezogen tragen, um uns für die Wahrheit blind zu machen. Die Wahrheit, das ist die Welt als Wille, sinnlos, egoistisch, deprimierend. Eine ähnliche Akzentumkehr wie bei Marx. Auch er wollte die schönfärberischen Täuschungen der kulturellen und geistigen Welt als Fassade entlarven, welche die düstere Realität der tatsächlichen Machtverhältnisse und Produktionsbedingungen verdeckt. Die Hinterwelt der Matrix hat den gleichen pessimistischen Akzent wie bei Schopenhauer und Marx: Die Wahrheit ist so deprimierend, so schwer zu ertragen, dass es wohltuend sein kann, in der Illusion zu leben. Der Schleier der Matrix ist (wie bei Marx das Opium der Religion) eine Schutzphantasie, die vor einer deprimierenden, um nicht zu sagen: traumatisierenden Einsicht schützt. Ignorance is bliss. — Aber ist das Entschuldigung genug, nichts wissen zu wollen?

Und noch ein wichtiger Unterschied: Weder im platonischen Reich der Ideen noch in Schopenhauers Welt als Wille findet sich eine Instanz, die mit böser Absicht manipuliert, täuscht und betrügt. Die kommt erst mit Descartes' bösem Dämon ins Spiel. Matrix setzt also die raunende Beschwörung der Hinterwelten und Höhlenausgänge fort, die so viele Jahrhunderte europäischer und nun auch amerikanischer Geistesgeschichte durchzogen hat. Von Platon der Befreiungsglaube der Erkenntnis, von Schopenhauer der Pessimismus der deprimierenden Wahrheit hinterm schönen Schein — und von Descartes der Dämon. Dieser Dämon ist für die Metaphysik das, was der Teufel für die Theologie ist: die personifizierte Ursache dafür, dass es einen Unterschied zwischen göttlicher Wahrheit und menschlicher Wirklichkeit gibt, zwischen eigentlichem Sein und täuschendem Schein.

Die Spekulation auf eine personifizierte Ursache, die aus der platonischen Metaphysik eine paranoide Ontologie macht, könnte man so paraphrasieren: Wenn es eine Welt hinter der Welt gibt, und wenn die Welt, die ich normalerweise erlebe, nicht die eigentliche Wirklichkeit ist, dann muss es eine Instanz geben, die für die Täuschung verantwortlich ist, und diese Instanz muss sich in der Hinterwelt befinden. Das Reich der Ideen muss dann der Hort eines bösen Manipulators sein. Daher könnte man über die Maschinen in der Hinterwelt der Matrix sagen: Sie sind böse cartesische Dämonen, die das platonische Ideenreich besetzt halten.

Die Matrix ist Ideologie. Sie ist der täuschende Schein, welcher die metaphysischen Tyrannen vor Erkenntnis und Widerstand schützt. Sie ist das imaginäre Verhältnis des Menschen zu seinen realen Existenzbedingungen. Widerstand, das hiesse, gegen die dämonische Macht des Manipulators anzugehen, der die Differenz zwischen den beiden Welten kennt und verwaltet. Sein Trick ist es aber, die Beherrschten für diese Differenz blind zu machen, also die Existenz der Hinterwelt, seine eigene Existenz und die Manipulation im Verborgenen zu halten. La plus belle ruse du Diable, sagt Baudelaire, est de nous persuader qu'il n'existe pas. Die Agenten des Widerstandes müssen mit den Agenten der Manipulation eines gemeinsam haben: dass sie über das Wissen von beiden Seiten verfügen, dass sie die Differenz beider Welten sehen können, dass sie über die Grenze hin- und herwechseln können. Erst das ist die Chance zu Wahrheit und Freiheit. Das Bekenntnis des Maschinenagenten Smith, der die Matrix nicht verlassen darf, obwohl er ihre andere Seite kennt, ist daher einer der unheimlichsten und tragischsten Momente des Films.

 

 

3 Leerheit und Eigenverantwortung

Zum Schluss möchte ich auf eine interessante Auffälligkeit in Matrix aufmerksam machen. Da gibt es einerseits das, was ich eine paranoide Ontologie genannt habe. Sie hat zwei zentrale Charakteristika: Zum einen das Hinterweltlertum — also die Vorstellung, dass es hinter der normalerweise erfahrbaren Realität eine andere Welt gibt, welche die eigentliche ist und von der aus sich die konventionelle Realität als Illusion erweist — und dann den Satanismus, also die Vorstellung, dass der Zerfall des Universums in eine Welt der Wahrheit und eine Welt der Täuschung einen personalisierten Ursprung hat und Resultat einer feindseligen Manipulation ist.

Und da gibt es andererseits eine Fülle von Anspielungen auf buddhistische Lehren und Vorstellungen, so wie sie mittlerweile in den amerikanischen Kulturkreis eingedrungen und von ihm adaptiert worden sind. Das beginnt mit der Wahl des Hauptdarstellers. Keanu Reeves hat zuvor nicht nur Johnny Mnemonic gespielt, den Datenkurier in der Verfilmung der gleichnamigen Cyberpunk-Novelle von William Gibson, sondern auch Prinz Siddharta in Bertoluccis Film Little Buddha. Buddhistisch klingen auch die Lehren, die Neo im Vorzimmer des Orakels erhält. Von einem kleinen Knaben, der sich die Zeit mit dem mentalen Verbiegen von Löffeln vertreibt, wird ihm gesagt: Do not try to bend the spoon. That's impossible. Instead, try to realise the truth about the spoon: There is no spoon. Then you realise: It is not the spoon that bends. It is your mind. Buddhistisch klingt auch die Betonung auf Befreiung des Geistes während Neos Ausbildungszeit. I am trying to free your mind, sagt Morpheus. Sein Lehrstil erinnert an bekannte Klischees buddhistischer Meister: überraschende Paradoxien, liebevolle Zuwendung, befreiende Schocks, hintergründiges Lächeln. Do you think that is air you are breathing?

Auch Morpheus' Suche nach Neo ist nicht nur eine messianische Heilsgeschichte. Allzu stark sind die Anklänge an die mittlerweile in Hollywood überaus bekannte Praxis buddhistischer Mönche, nach der Wiedergeburt ihres verstorbenen Meisters zu suchen. Und beim Duell im U-Bahn-Schacht, als Agent Smith und Neo sich wechselseitig die Revolver an die Schläfe halten, fallen die Worte: You are empty. — So are you. Die deutsche Synchronfassung übersetzt hier völlig korrekt: Dein Magazin ist leer. — Deins auch. Verloren geht dabei eine Doppeldeutigkeit. Leerheit, emptiness, ist nämlich die übliche Übersetzung für einen zentralen Begriff buddhistischer Philosophie, sunyata auf Sanskrit. Gemeint ist damit, dass kein Phänomen eine Eigennatur hat, dass es kein Ding gibt, welches aus sich heraus eigenständige Existenz hat. Es ist das, was der löffelverbiegende Knabe gesagt hat: There is no spoon. Zum Schluss durchschaut Neo die Leerheit der Matrix. Er sieht, dass diese Welt keine eigenständige, substantielle Existenz hat. Er sieht: There is no agent. Deshalb kann er zu ihm sagen: You are empty. Er hat begriffen, was Morpheus meinte, als er sagte: The mind makes it real. Er hat verstanden, dass der Eindruck einer soliden Realität zustandekommt, wenn das Bewusstsein in Anhaftung, Abneigung und Unwissenheit gefangen den Phänomenen eigenständige Existenz zuschreibt. Und zum Schluss tut er, was der Boddhisattva tut: Er bleibt in der Welt, die er in ihrer Leerheit durchschaut hat, um andere zu befreien.

Und dies ist nun die Auffälligkeit: Es besteht ein Widerspruch zwischen paranoider Ontologie und buddhistischer Leerheit. Zum einen: Das Nirvana ist keine Hinterwelt. Es ist keine eigentliche Welt hinter der Oberfläche des trügenden Scheins. Es ist kein Jenseits, das beginnt, wo das Diesseits aufhört. Zum anderen: Buddhistisch gesehen ist nicht jemand anderes für meine Unwissenheit verantwortlich zu machen. Dass wir in Täuschung über die wahren Verhältnisse leben gilt nicht als Resultat einer dämonischen Intervention in ein ursprünglich funktionierendes Universum, sondern als Fortsetzung einer anfangslosen Unwissenheit, die wir selbst perpetuieren. Die Vorstellung einer anderen, eigentlichen Welt hinter oder jenseits der hiesigen ist dem Buddhismus ebenso fremd wie der Gedanke, eine personale, aussenstehende Instanz für meine Unwissenheit und Unfreiheit verantwortlich zu machen.

Daher ist buddhistische Freiheit auf der Grundlage der Leerheit etwas anderes als metaphysische Freiheit im Rahmen einer paranoiden Ontologie. Buddhistisch gesprochen heisst Befreiung nicht, eine andere Welt zu betreten. Es heisst, in dieser anders zu leben und zu erleben. Es heisst auch nicht, äussere Agenten der Unfreiheit zu bekämpfen. Sondern Befreiung heisst, gegen die einzige Instanz anzugehen, die mich daran hindern kann: ich selbst.

Bibliographie

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Fink, Bruce. A Clinical Introduction to Lacanian Psychoanalysis. Theory and Technique. Cambridge, London: Harvard UP, 1997

Freud, Sigmund. "Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose" In: Zwang, Paranoia und Perversion. Freud-Studienausgabe Band VII. Herausgegeben von A. Mitscherlich, A. Richards und J. Strachey. Frankfurt: Fischer 1973

Gampopa, Dschetsün. Der kostbare Schmuck der Befreiung. Herausgegeben vom Übersetzungskomitee Karmapa. Übersetzt ins Deutsche von Sönam Lhündrub. Berlin: Theseus, 1996

Lacan, Jacques. Les psychoses. Le Séminaire de Jacques Lacan. Livre III. Paris: Seuil, 1981

Nietzsche, Friedrich. Also sprach Zarathustra I-IV. Kritische Studienausgabe. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari. 2. Aufl. Berlin, New York: De Gruyter, 1988

Pfeifer, Wolfgang (Hg). Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. Erarbeitet im Zentralinstitut für Sprachwissenschaft, Berlin, unter der Leitung von Wolfgang Pfeifer. 2. Aufl. München: dtv 1993

Platon. Politeia — Der Staat. Bearbeitet von Dietrich Kurz. Griechischer Text von Émile Chambry. Deutsche Übersetzung von Friedrich Schleiermacher. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1990

Rougemont, Denis de. La part du Diable. Paris: Gallimard, 1982

Schopenhauer, Arthur. Die Welt als Wille und Vorstellung. Erster Band. Wiesbaden: Brockhaus, 1949

Schreber, Daniel Paul. Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken. Berlin: Kadmos, 1995

Shantideva. The Way of the Bodhisattva. A Translation of the Bodhicharyavatara. Translated from the Tibetan by the Padmakara Translation Group. Foreword by the Dalai Lama. Boston: Shambala South Asia Editions, 1999

Sopa, Geshe Lhundup und Jeffrey Hopkins. Cutting Through Appearances. The Practice and Theory of Tibetan Buddhism. Ithaca: Snow Lion Publications, 1989

 

Filmographie

Annaud, Jean-Jacques. Seven Years in Tibet. With Brad Pitt, David Thewlis, B.D. Wong, Mako and Danny Denzongpa. Screenplay by B. Johnston. Based on 'Seven Years in Tibet' by Heinrich Harrer. Produced by Iain Smith and John H. Williams. 1997.

Bertolucci, Bernardo. Little Buddha. With Keanu Reeves, Chris Isaak, Bridget Fonda. Screenplay by Mark Peploe and Richard Wurlitzer. Produced by Jeremy Thomas. Miramax: 1994.

Fassbinder, Rainer Werner. Welt am Draht. Screenplay by R. W. Fassbinder. Produced by Peter Märtesheimer. 1973.

Longo, Robert. Johnny Mnemonic. With Keanu Reeves, Dolph Lundgren, Takeshi Kitano. Screenplay by W. Gibson. Based on the short story 'Johnny Mnemonic' by William Gibson. Produced by Don Carmody. Tristar: 1995.

Proyas, Alex. Dark City. With Rufus Sewell, Kiefer Sutherland, Jennifer Connelly, William Hurt and Richard O'Brien. Screenplay by Lem Dobbs, David S. Goyer and Alex Proyas. Produced by Andrew Mason. New Line Cinema: 1998.

Rusnak, Josef. The Thirteenth Floor. With Craig Bierko, Gretchen Mol, Armin Mueller-Stahl. Screenplay by J. Rusnak. Based on Daniel F. Galouye's 'Simulacron-3'. Produced by Roland Emmerich. Columbia Pictures/Sony Pictures: 1999.

Scorsese, Martin. Kundun. Screenplay by M. Mathison. Produced by Barbara de Fina. Buena Vista and others: 1997.

Verhoeven, Paul. Total Recall. With Arnold Schwarzenegger, Rachel Ticotin, Sharon Stone, Michael Ironside and Ronny Cox. Screenplay by R. Shusett und D. O'Bannon. Inspired by the short story 'We can remember it for you wholesale' by Philip K. Dick. Produced by Buzz Feitshans and Ronald Shusett. Carolco Pictures: 1990.

Wachowski, Andy und Larry Wachowski. The Matrix. With Keanu Reeves, Laurence Fishburne, Carrie-Anne Moss and Hugo Weaving. Screenplay by A. and L. Wachowski. Based on the comic 'Hardboiled' by Geoff Darrow. Produced by Joel Silver. Warner Bros.: 1999.

Weir, Peter. The Truman Show. With Jim Carey, Laura Linney, Noah Emmerich and Natascha McElhone. Screenplay by A. Niccol. Produced by Scott Rudin and others. Paramount Pictures: 1998.

 

Benjamin Marius Schmidt

Englisches Seminar der Universität Zürich

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